Kinder und Waffen

Kinder und Waffen

Es scheint zu allen Zeiten für Buben zumindest ein besonderer Reiz darin zu liegen, mit Waffen umzugehen.  Ob diese Einschränkung auch heutzutage noch gültig ist bezweifle ich aller­dings seit sich die Damenwelt zu Uniform und Kriegsspiel drängt.  Wir waren da auch keine Ausnahme.  Das ging an mit Schnelzern, anfangs ganz harmlos mit Gummiringen zwischen den Fingern gespannt und mit gefaltetem Papier als Geschoss, dann kamen schon Astgabeln  mit Gummiringen von Weckgläsern plus Kieselsteinen und Krampen.  Sehr beliebt waren auch Blasrohre.  Da konnte man mit gekauten Papierkugeln oder Kitt ziemlich genau schießen und treffen.  Solche Sachen haben wir auch während des Unterrichts in der Schule gemacht.  Glaubte man sich unbeobachtet, flog alles mögliche hin und her und mit dem Blasrohr ziel­sicher.  Während der Lehrer an die Wandtafel schrieb, konnte man so ein feuchtes „Bätzchen“ nahebei platzieren.  Einmal schaffte ich es – natürlich wieder mal ohne es zu wollen – ihm, als er sich umwendete, auf die Brille zu treffen.  Meine „Tracht“ hatte ich wieder mal weg, meine Treffsicherheit und mein Mut wurde gerühmt.  So kommt man ungewollt zu Ansehen: „Der August hat sich widder emal was geleist.“

Stärkerer Tobak waren dann Pfeil und Bogen, anfangs mit Haselnuss-Stecken und Schnur, die Pfeile dünne Ruten.  Im fortgeschrittenen Stadium stellten wir die Bogen aus den Stahlstäben von Regenschirmen, drahtumwickelt und gespannt her und verwendeten als Pfeile einzelne Fahrradspeichen.  Es ist geradezu ein Wunder, dass uns beim hantieren mit diesen Dingen nie was passiert ist.  Blechbüchsen waren die Ziele, wenn wir unsere Treffsicherheit testeten.  Und die Ratten, die in den Unterführungen des Quellenbachs, in den Lagerhallen und Stallun­gen und in den Gerümpelhaufen der Produktenhändler hausten und einfach nicht auszurotten waren, die in die Höfe huschten und in Kellern über die Vorräte herfielen, waren Ziele, für die wir sogar belohnt und belobigt wurden.  Unsere Pfeile fanden da reiche Beute.

Je älter wir wurden, desto mehr entfernten sich unsere Aktivitäten von den Spielchen der Kind­heit.  Als die im Zuge des Luftschutzes durchgeführten Entrümpelungen, bei denen vor jedem Haus ganze Haufen von Dingen, die sich im Laufe der Zeit in den großen Speichern der Häuser an­gesammelt hatten und die nun unter Aufsicht der Luftschutzwarte geräumt wur­den, aufge­türmt waren, war unsere Stunde gekommen.  Wir krochen selbst durch alle Risse und Spalten, halfen den Fuhrleuten beim Aufladen und was uns gut und für unsere Zwecke brauchbar er­schien wanderte wieder in unsere eben erst entrümpelten Speicher.  Was wir al­ler­dings dort deponierten waren keine brennbaren Sachen.  Als mein Papa unseren Dachbo­den einmal in­spizierte, weil er wissen wollte, was ich so oft dort oben trieb, hat er eine schö­ne Waf­fen­sammlung bewundern können.  Er fand das aber gar nicht gut und ich sollte das al­les rüber zum Gotthilf schaffen.  Ich fand Abnehmer für einiges, manches versteckte ich bei meinen Büchern im Spitzboden.  Es ist alles verbrannt.  Heute wären Hellebarde, Säbel, Flo­rett, Pisto­len, Bajonett und Pickelhaube gesuchte Antiquitäten von großem Wert.  Für mich sind die ver­brannten Bücher ein noch viel größerer Verlust.  Da haben die Tommys das Werk der Na­zis konsequent fortgesetzt.  An viele der Bücher kann ich mich noch gut erinnern, weil ich sie gelesen habe. Da war die Räuberbande von Leonhard Frank, Berlin Alexanderplatz von Al­fred Döblin, die Hausapotheke von Erich Kästner, Wolf unter Wölfen von Fallada, Deutsch­land über alles von Kurt Tucholski, das Schloß von Franz Kafka, Jahresbände der Weltbühne, der Untertan von Heinrich Mann und von Thomas Mann der Zauberberg und die Budden­brooks, auch Bände von Remarque, Feuchtwanger, Brecht, Zweig, Kisch, Hasencle­ver Heine und Mühsam.  Für einen ganzen Berg von Bänden hatte ich noch keine Zeit oder Ver­ständ­­nis aufbringen können.  Bei aller schönen neuen Literatur, mein Herz hängt an diesen Büchern und den Menschen, die sie geschaffen haben, den großen verbrannten Dichtern vor allem der unvergesslichen 20er Jahre, der Zeit der Republik von Weimar.

Bei den Entrümpelungsaktionen hatten wir uns auch mit allerlei Waffen eingedeckt.  Wir waren ja keine Sammler, die sich das Zeug an die Wand hängen oder archivieren. Wir wollten das auch ausprobieren.  An Munition für Gewehre, Pistolen und Revolver kamen wir nicht ran, allenfalls an KK-Munition und die konnte man mit den kleinen Teschings verschießen.  Weil das Schießen auf Zielscheiben nur dann richtigen Spaß macht, wenn diese einer in der hand hält, haben wir das auf dem Spitzboden unseres Hauses ausprobiert.  Ein Hausbewohner hat uns dabei überrascht.  Er drückte die Falltür aber genau in dem Moment hoch, als der Itzich auf die von mir gehaltene 12er-Scheibe abzog.  Da wurde mein Handgelenk zum 12er und der Itzich traf ins Schwarze.  Im Lukra wurde der Fall schmerzhaft, aber ohne Folgen ge­löst.  Dem Arzt haben wir versprochen, das nie wieder zu tun.  Das war nicht weiter schwer, es gibt ja so viele andere Möglichkeiten....

In einem Film hatten wir die Helden – wir wurden unentwegt mit solchen gefüttert, sollten ja selber welche werden – bewundert, wie sie mit Säbel oder Florett fochten.  Da es uns an solchen Geräten auch nicht mangelte, haben wir das natürlich kopiert.  Erst mit Rohrstöcken, dann mit Sportfloretts, irgendwann auch mit echten Raritäten.  An meiner rechten Hand zeugt  heute noch eine schwach sichtbare Narbe von einem Gefecht, das nun schon bald siebzig Jahre her ist und nach dem Werner, der Sieger, mit mir den üblichen Weg ging und wir beide wieder trefflich belehrt von dannen gingen.

Werfen und „Schmeißen“ war immer angesagt.  Ob es nun darum ging, einen Ball oder Stein möglichst weit oder auf was bestimmtes zu werfen, oder zu treffen, das war echte Bubensache.  Da ging immer wieder mal was zu Bruch, eine Fensterscheibe, oder ein Blumentopf.  Dann gab’s Dresche, Strafarbeit oder Ausgangssperre.  Wenn es irgendwie zu deichseln war, haben wir uns der Strafverfolgung durch eilige Flucht entzogen und da ging es schon mal durch fremde Anwesen, Werkstätten oder auch über das Dach ins Nachbarhaus, durch Hinter­höfe in andere Straßen, denn eine Haftpflichtversicherung hatte niemand und wenn der Papa hätte zahlen müssen, wäre es ans Eingemachte gegangen. 

Jugendkriminalität

Zum Thema

Von jugendlichen Straftätern, Heuschrecken und Nebelkerzen   
                                                                       
von Helmut Försch

Zur Zeit wird viel Dampf gemacht im Vorfeld der Landtags- und auch schon der Bundestagswahlen. In dieser Hexenküche der Halbwahrheiten und gezielt gesteuerten Emotionen lässt sich gut mit der Angst der Menschen und mit der Ablenkung von den Fehlern und den Gründen für die Entwicklung der letzten Jahre argumentieren und handeln.  Was steckt denn hinter dem Problem der Jugendkriminalität? Oder dem Abwandern ganzer Industriezweige ins Ausland? Oder der rapid wachsenden Armut in diesem reichen Land? Oder der hilflosen Versuche der Politik aus dem von Heuschrecken und Krokodilen fein gestrickten Netz noch einen gangbaren Weg zu finden.?
Das Volkseigentum an Immobilien, Industrie, Verkehr, Post und Bahn wurde verschleudert, die Renten­kassen geplündert, für Rüstung, militärische Abenteuer, Prestigeobjekte und fragwürdige Repräsentation wurden Schuldenberge aufgehäuft. Bildung und Ausbildung wurde sträflich vernachlässigt, in letzter Zeit sogar privilegiert, genau so wie auch das Gesundheitswesen zunehmend zu einem Klassenthema wird.  Fachkräftemangel bei großer Arbeitslosigkeit und daneben Führungskräfte, die Summen davonschleppen, mit denen sie verschuldete Städte sanieren könnten. Um Arbeitsplätze zu schaffen schaufelt die Politik Milliarden in den Rachen der Wirtschaftsmafia. Die lachen sich ins Fäustchen, kassieren und hauen ab. Die Arbeitsagentur zahlt für die Bereitstellung eines Arbeitsplatzes einen Teil des Entgelts, bei Abschluss der Maßnahme fliegt der wieder raus: Subvention für Abzocker.
Ein Teil der Schulabgänger bekommt keinen Ausbildungsplatz, sehr viele müssen sich mit einem Job zufrieden geben, der keine Freude macht. Junge Menschen geladen mit Wünschen und Energie, die keine Erfüllung finden, sehen zu, wie andere mit Geld und Prestige um sich schmeißen, haben nicht die Mittel, sich eine weitere schulische Aus- oder Fortbildung zu leisten und wenn sie das doch versuchen können, stehen sie trotzdem auf der Straße.   Die Bildung insgesamt wird durch Schulgeld und Lernmittel­kosten erschwert. Auf Grund des sozialen Standes bedürfen viele Kinder schon in den Grundschulen psycholo­gischer Hilfe.  An Fachkräften, die das bewältigen können fehlt es, am Geld und oft auch am Willen es dafür bereit zu stellen, erst recht. 
Wenn ein Jugendlicher erstmals mit dem Gesetz in Konflikt kommt, dann ist es sicher hilfreich, wenn er mal ein paar Tage in Untersuchungshaft nachdenken kann, aber es ist nötig, dass er dann auch noch mit geschultem Personal über seine Lage und seine Chancen reden kann, dass ihm Perspektiven und Hilfen geboten werden. Auf solchem Wege kann man die meisten abhalten, weiter abzurutschen. Es wird sich aber nur dann insgesamt etwas ändern, wenn die Ursachen angepackt werden: das Kind schon muss von der ersten Klasse an gefördert werden, familiäre Defizite müssen erkannt, bereits bestehende vom Schul­psychologen behandelt werden. Auch der finanziell Unvermögende muss die gleichen Bildungschancen bekommen. Es muss darauf geachtet werden, dass die Talente erkannt und zielgerichtet gefördert werden. Ob ein Studium angestrebt werden kann, darf allein von der Eignung abhängig sein. Wenn die Arbeit­geber nicht ausbilden, müssten sie eine Abgabe entrich­ten, die den ausbildenden Firmen gutgeschrieben werden.  Wenn es um Ausbildungs- und Arbeitsplätze geht, steht nur selten der Mensch im Mittelpunkt der Überlegungen und Entscheidungen, sondern der Gewinn, die Rendite, das Interesse der Eigentümer und Geldgeber.  Allein aus solchen Erwägungen werden Firmen geschlossen oder verlegt, werden Arbeit­nehmer "freigestellt", wird Familien die Zukunft verbaut, werden Menschen, die ihr Leben lang schwer gearbeitet haben, künftig mit einer Rente, die kaum oder nicht einmal den Fürsorgesatz übersteigt, abge­speist. Millionen von Menschen fristen ihr Leben mit Minijobs, oft mit mehreren Arbeitsstellen.  Obwohl ihnen Urlaub und Krankengeld gesetzlich zusteht, wird es vielen vorenthalten.  Die Gewerkschaften dürfen angeblich nicht dagegen einschreiten, die Politik hält sich raus, der Bürger ruft das Gericht an, gewinnt den Prozess und verliert seinen Arbeitsplatz. Er wird allein gelassen.
Wenn heutzutage handwerklich und akademisch gebildete Menschen mit 1-Eurojobs ihr Leben fristen müssen, dann ist das eine Bankrotterklärung der Gesellschaft. Wenn ein Mann, der ein Vierteljahrhundert geschuftet, sich ein Leben lang für seine Familie und die Allgemeinheit eingesetzt hat, mit 50 Jahren nicht nur seinen Arbeitsplatz, seine geordnete Zukunft eingebüsst hat, sondern auch all sein Erspartes und sein Eigentum und damit ein unbeschwertes Alter verliert, dann ist das ein Verbrechen.  Das erkennen natürlich auch die Betroffenen und das wissen auch die Politiker, die an den Schalthebeln der Macht sitzen. Und jene vermuten mit Recht, dass sich die Ausgebeuteten und Entrechteten das eines Tages nicht mehr gefallen lassen und deshalb ist es auch sonnenklar, warum die ständigen Versuche, die Freiheits­rechte der Bürger einzuschränken, sie zu überwachen und schließlich auch die Bundeswehr im Innern einsetzen zu können, immer mehr an Ungeduld und Schärfe zunehmen. Die ersten Schritte dazu sind getan.  Abhören und Schnüffeln sind bereits gängige Praxis und die Frage, ob die Methoden der Stasi als Vorlage dienten oder bereits übertroffen werden, wäre zu stellen.  
Der Traum von den Vereinigten Staaten von Europa ist ausgeträumt. Er hat lediglich eine immense Bürokratisierung und eine ungezügelte Globalisierung der Märkte gebracht.  Wenn das Wohl der Men­schen - aller Menschen und der Natur - wieder in den Mittelpunkt von Zukunftsvisionen kommen soll, müssen alle Kräfte darauf gerichtet werden, die Demokratie zu stärken, der Politik wieder in die Lage zu versetzen, Entscheidungen zu treffen, vor allem die Diktatur des Suprakapitalismus zu brechen.  Das wird sehr schwer sein, denn sie besitzen die Macht der Wirtschaft, ihnen gehören die Medien, sie verfügen über die militärischen Resourcen und sie sind dabei, das Bildungsmonopol durch Rückkehr zur Klassen­gesellschaft zu etablieren.

Stolpersteine gewürdigt

 Stolpersteine gewürdigt
Bei der letzten Sitzung des Stadtrats im Dezember 2010 wurd u.a. die Aktion Stolpersteine mit der Wilhelm-Josef-Behr-Medaille ausgezeichnet.                         
In meinen Dankesworten sagte ich:
Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister, liebe Mitbürger,
ich bin sehr bewegt von dieser Ehrung, die uns heute zuteil wird.  Die Stadt Würzburg  würdigt damit die Arbeit des Arbeitskreises Stolpersteine, sie zeigt damit aber auch, dass sie voll hinter diesem Erinnerungswerk steht, sie setzt damit ein deutliches Zeichen.  Ich bin in besonderer Weise betroffen, denn für mich ist diese Aktion das Ziel und  der Höhepunkt meines über 60jährigen Strebens, mit den Erlebnissen, den Zweifeln und Vorwürfen fertig zu werden, die mir als Mitglied der Tätergeneration wie Pech anhaften. 
Mit Bestürzung und wachsender Verzweiflung habe ich nach Kriegsende das ganze Ausmaß dessen sehen müssen, was von uns, oder in unserm Namen  angerichtet wor­den ist. Dieses Trauma drückt mich auch heute noch, selbst wenn Menschen wie Max Mannheimer, die Kinder von Felix Fechenbach, Karl Weller und andere mir sagten: „Du warst doch da noch ein Kind“   Aber ich war 1945 fast 17 Jahre alt und ich habe zumindest ab 1943 gewünscht, dass das zu Ende gehen sollte, aber nichts getan, mir überhaupt nicht vorstellen konnte, was ich hätte tun sollen. Nach 1945 war ich jedoch überall zu finden, wo es gegen Faschismus und Militaris­mus ging.  Bis in unsere Tage habe ich mich geschämt ein Deutscher zu sein, wenn es um Dinge wie Wieder­­gut­machung oder Aufarbeitung der Vergangenheit, um Denkmale oder Fremdarbeiter ging, wenn würde- und instinktloslos um Banalitäten, Geld und Verantwortung  gefeilscht wurde, aber nichts geschah, im Gegenteil, es wurden die Opfer, ganze Volksgruppen weiter diffamiert und verfolgt, wurde und wird immer noch versucht die Nazizeit zu relativieren. Wie traumhaft kommt es mir aber vor, wenn die Kinder, Verwandte und Freunde der Opfer Dank sagen für unseren Einsatz, wenn viele mir daraus in Freund­schaft verbunden sind, wenn ich sehe, auf wie fruchtbaren Boden unsere Arbeit fällt und was wir damit für Frieden und Freundschaft tun können. Hitler und seine Paladine haben mit Worten wie ausradieren, auslöschen, vernichten ständig gedroht und ich höre diese Stimmen noch immer.  Und es ist ihnen gelungen, Sie haben unsere Mitbürger weggeführt, ermordet, ihre Namen und ihre Asche in den Wind gestreut.  Die Stolpersteine bringen diese Menschen wieder heim. Da wo sie lebten und liebten, arbeiteten und feierten sind sie wieder spürbar.  Es ist nur eine Geste, das was wir tun.  Aber es ist ein Signal, zur Erinnerung an das was geschehen ist, zur Mahnung auf der Hut zu sein, aber das wichtigste: Beispiel geben, sich bekennen, Zivilcourage erlernen, keine Gewalt zulassen, sich ein­mischen.  Viele Vorkommnisse in unseren Tagen beweisen, dass wir damit noch am Anfang stehen.

Wir müssen noch viele Stolpersteine verlegen und die Idee von Frieden, Gerechtig­keit und Freiheit verbreiten, uns einsetzen gegen Hass und Revanchismus. Der Gedanke an Wilhelm Joseph Behr, der für diese Ideale lebte, in den Kerker ging und starb, wird uns weiterhin Vorbild und Richt­schnur sein. Diese Medaille wird uns mahnen, alles zu tun, dass alle Menschen die man auslöschen wollte, wieder in unsere Stadt zurück kehren dürfen.

Grombühl 1933 -1945

Bei der Abendveranstaltung zur Verlegung von Stolpersteinen in 
Würzburg- Grombühl am 11. Februar 2oo8 

erzählte Helmut Försch über seine Kindheit und Jugend während der Nazizeit.

Grombühl 1933 – 1945   -  M. s.v.D +H

Mit wenigen Blitzlichtern darf ich Sie in die Zeit meiner Kindheit und Jugend führen, davon erzählen, wie ich sie erlebt habe.  Im Juli 1928 geboren, war ich am Ende der Diktatur noch nicht ganz 17 Jahre.  Ich habe diese Zeit, zumindest von meinem achten Lebensjahr an, mit wachen Sinnen erlebt.  Dabei lagen Begeisterung und Enttäuschung, Elternhaus und Schule, Pflicht und Gewissen immer wieder im Widerstreit.  Ich habe damals nichts getan, dessen ich mich schämen müsste, aber ich gehöre zur Tätergeneration und habe zeitlebens schwer an dieser Hypothek getragen.  Von 1946 an habe ich mich mit dieser Vergangenheit beschäftigt und deshalb sind mir Geschehnisse und Gefühle, Gespräche und Reflexionen gegenwärtig.

Grombühl war ein Stadtteil, mehr eine Vorstadtgemeinde der kleinen Leute, der Arbeiter, Handwerker und Beamten.  Unmittelbar nach der Machtübernahme waren die Parteien  und Organisationen der demokratischen Linken ihrer Führung beraubt, die aktiven Mitglieder in Kerker und KZ eingeschlossen oder unter Rechtsbeugung verurteilt.  Viele blieben dauernd verschwunden, andere kamen schweigend zurück.  Oft werde ich gefragt, ob man denn nicht gemerkt habe, was da geschah.  O ja, das Verschwinden von Menschen bis zum Beginn des Krieges wurde sehr wohl registriert, es wurde ja sogar in den Zeitungen veröffentlicht, wenn man wieder einmal einen Kommunisten, Sozialisten, Geistlichen oder Widerspenstigen aus dem Verkehr gezogen hat.  Da wusste man, das waren Gegner der Nazis.  Bei vielen anderen, die unter die Räder kamen, war das anders.  Sie verschwanden zum Teil spurlos oder wurden, wie die jüdischen Mitbürger und die Euthanasieopfer zuerst in Häusern und Heimen zusammen gepfercht, eines Tages umgesiedelt und an anderen Orten umgebracht.  Ab 1939 waren Millionen von Menschen zum Militär, zum Kriegsdienst, zum Arbeitseinsatz zwangs­verpflichtet oder evakuiert worden.  Es gab kaum eine Familie, in der man nicht um einen Menschen bangte und weinte.  Das nutzten die Kolonnen der Vollzugsbeamten des Terrors, ihre Gefangenen endgültig verschwinden zu lassen.

Man lebte hier wie in einem kleinen Städtchen.  Man kannte einander.  Die wenigen aktiven Nazis waren durch die zur Schau getragenen Uniformen und anfangs mit Hakenkreuzfahnen vor ihren Fenstern bekannt.  Bei uns in der Grombühlstraße hingen nur ein paar davon.  Die Bürger wurden aufgefordert, diese Fahnen raus zu hängen.  Nichts half.  Schließlich wurden die Hausherrn verpflichtet, sie zu kaufen und Halterungen anzubringen. Weil mein Vater sich weigerte, ich aber seit kurzem begeistert beim Jungvolk war, hängte ich sie raus. Man grüßte mit „Grüß Gott“ oder „Guten Tag“, die Nazis  kannte man auch ohne das Parteiabzeichen.  Der Frisör Grümbel gegenüber hat während seiner Arbeit kein Blatt vor den Mund genommen, hat auch Witze über die Nazis erzählt während ich wartete dran zu kommen..
Er hatte eine Enkelin, Hannelore, die Halbjüdin war.  Er wurde nicht verpfiffen, Tochter und Enkelin geachtet.  Als ich mit den Naziparolen „Die Juden sind unser Unglück“, mit Ausdrücken wie Abschaum, Novemberverbrecher, Blutsaugern und Untermenschen von der Schule heimkam, sagte mein Vater: „Meinst Du wirklich, dass die Juden die du kennst, Unglück, Blutsauger, Abschaum sind“ „Aber Papa, ich kenne doch gar keine Juden“ „Natürlich kennst du sie:  zum Beispiel Herrn Gotthilf,  die Kastanienbaums und Dr.Loeb“ . „Das sind Juden?“  Herrn Gotthilf hatte ich ins Herz geschlossen, nicht nur, weil er aussah wie der Gottvater in meinem Katechismus. Er strich mir auch zuweilen gütig über die Haare , er gestattete mir auch, in seinem Papierlager zu stöbern und mitzunehmen was mir gefiel. Dort wurde die den Nazis nicht genehme Literatur eingestampft und ich schleppte sie heim: Kästner, Tucholski, Feuchtwanger, Frank, Fallada, Mann, Morgenstern – sie blieben nicht ohne Einfluss auf meine Entwicklung. Auch die Kastanienbaums mochte ich.  Wir Buben hatten meist mit Frau Kastanienbaum zu tun, wenn wir ihr unser Altmetall brachten.  Wir sagten: „Bei der „Bella“ kriege mer e weng mehr wie beim Gotthilf für unner Zeuch“  Sie fragte uns immer genau aus, woher wir die Sachen hatten.  Ab 1935 waren Entrümpelungen der Dachböden wegen des Luftschutzes angesagt.  Wir boten den Nachbarn an, das wegzubringen, halfen beim Entrümpeln, legten für uns Wertloses auf die Straße, aber Blei, Kupfer, Zinn, Messing  ging mit uns zu Bella und Gotthilf. Vor dem kleinen Kabäuschen mit der Waage, in dem Bella Kastanienbaum mit uns abrechnete und herrschte, saß bei schönem Wetter  ihre Mutter „Oma Tine“ –  in der Sonne und strickte, schaute dem Verkehr und unserm Treiben zu.

Wir Buben sind aus damals verständlichen Gründen zumindest anfangs von Jungvolk und HJ begeistert gewesen.  Wir hatten nur einfachste Kleidung, kurze Hosen, lange schwarze wollene Strümpfe mit Straps und Leibchen und die, die lockten mit Schihose und Fahrten­messer, Geländespiel und Zeltlager, Segelfliegen und Seesportschule, Schifahren und Reiten und unsere Jungvolkführer kamen von den Pfadfindern und bauten diese nach dem Krieg auch wieder auf.  Der NS spielte dort  nicht die überragende Rolle wie in der Schule. Erst als ich mit 14 Jahren ins Schul­heim der LBA wechselte, lernte ich die menschenverachtende und kulturfeind­liche Dressur zum willenlosen Befehlsempfänger kennen.  Daraus und aus den Versuchen meines Vaters, mir ein eigenes Bild zu vermitteln, ergab sich eine zunehmende Distanz zu diesen Leuten, auch wenn Papa mir vom 11. Lebensjahr an nicht mehr als Freund und Berater zur Verfügung stand, weil er alle Offerten der Nazis, bei ihnen mitzuarbeiten ablehnte und deshalb dienstverpflichtet wurde – ich lernte mit offenen Augen.

Meine Eltern waren bis zum Verbot 1933 Mitglied der Naturfreunde gewesen und in sozialem Kontakt mit der demokratischen Linken.  Einige von ihnen waren den Nazis ins Netz gegan­gen.  Da hörte ich öfter, dass man wieder einen geholt hatte und da hing immer ein Schicksal dran: Namen wie Albert, Sittig, Schwab, Kröckel, Brand, Schubart, Freuden­berger tauchten in Gesprächen der Eltern und ihres Freundeskreises immer wieder auf.  Martin Adelmann aus unserm Haus und Ernst Thalheimer von nebenan verschwanden spurlos.

Wir Buben in Grombühl haben in zwei Welten gelebt, die sich nicht mischen ließen.  Wir gingen zum Kommunionunterricht, marschierten begeistert im Jungvolk mit, aber wir gingen zu Bella und Gotthilf, pflegten Umgang mit gefangenen Franzosen, später mit  Russen und Fremdarbeitern, sammelten Kippen für sie und Rohtabak von den Zigarrenfabriken Bayerl und Sauer, zweigten Kartoffeln und Brot ab und legten das an den Platz, wo Iwan vorbei kam.  Wir warfen es den zerlumpten Russen und Zwangsarbeitern zu, die abends von der Nürnberger Straße kommend von Soldaten durch die Grombühlstraße getrieben wurden – ein Elendszug, der so manchen Menschen nachdenken  ließ:.   „Wenn wir das nicht einmal büßen müssen.“ hörte ich Nachbarn offen aussprechen.

Bis lang nach dem Krieg glaubte ich noch an dieses schöne Bild von den anständigen Grombühler Bürgern insgesamt.  Die für mich sichtbare Trennung zwischen Nazis und einer schweigenden Mehrheit.  Einer schweigenden Mehrheit, der im überwiegenden teil nicht bewusst war, welche Mitschuld, zumindest aber Mitverantwortung sie auf sich geladen hatte, die auch nicht ahnte, was alles in ihrem Namen geschehen war und noch geschehen würde.  Erst Recherchen, vor allem auch in den Akten der Gestapo zeigte:  Es gab auch Informanten, Verleumder, meist aus niedrigen Beweg­gründen oder weil sie sich einen Vorteil, eine Beförderung, das Gut eines andern oder eine UK-Stel­lung versprachen, wie uns das Schicksal von Philipp Tripp zeigt, dessen Stolperstein wir heute verlegt haben.  Die Stolpersteine sollen auch diese Seite beleuchten und mahnen.  Sie sind für mich Ansatz zur Aufklärung in den Schulen, Mahnung vor den Gefahren des Rechtsradika­lismus und vor allem die Erinnerung an unsere ermordeten Mitbürger.  Sie sollen aber auch Mut machen, sich mit offenen Augen in unserer Zeit zu bewegen und überall dort, wo Menschenrechte in Gefahr sind, Menschen bedroht, ausgegrenzt, in ihrer Gesundheit oder ihrem Selbstwertgefühl verletzt werden, engagiert einzugreifen nach eigenem Vermögen.

Dann können wir beruhigt schlafen.