Meine Geschichten

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Meine Geschichten

                                                            1945

Der Werwolf im Heizungskeller               

Vor der eisernen Tür des Heizungskellers in der Landwirtschaftsschule wird es laut.  Undeut­lich kann ich Befehle hören, die mehrfache Sicherung meiner Ersatzzelle wird knirschend ent­fernt, Rie­gel rasten aus, die rasselnden Schlüssel und die bekannten Geräusche im Schloss zeigen mir, dass ich wieder einmal Besuch bekomme. Endlich wieder mal raus aus dem Loch, denke ich mir zuerst, aber es gibt schon zu bedenken, wie sich das weiter entwickeln wird, es kann ja noch viel schlim­mer kommen.  Als die Tür aufgerissen wird, stehe ich schon mit hinter dem Kopf ver­schränk­ten Ar­men bereit, denn das kannte ich schon zur Genüge, das hässliche Geräusch, wenn die Maschi­nenpistole entsichert wird, wenn der GI mit dem Finger am Abzug winkt, mir den Weg weist und das komische Gefühl im Magen, wenn man dem Lauf ins Auge schaut.  Und dass das Ding losge­hen sollte, dafür wollte ich auf keinen Fall einen Vorwand liefern.

 

„Come on“, der Wink mit der Waffe hätte der verbalen Unterstützung gar nicht mehr bedurft.  Auch das Tempo der Fortbewegung hatte ich schon intus.  Ging ich zu langsam, spürte ich die Missbilli­gung an den unsanften Stößen mit der MP im Rücken, lief ich zu schnell, zeigte der GI, dass bei der Army die Munition nicht rationiert war, denn da pfiffen einem gleich ein paar blaue Bohnen um die Ohren.  Dass ich jetzt, wo so viel überstanden war, und nun wegen einer Sache, die mir noch Rätsel aufgab, noch dran glauben sollte, das wollte, das musste ich vermeiden.

Diesmal ging es nicht hinauf in den ersten Stock, wo ich schon mehrmals zur Person vernom­men worden war, wo ich bisher nicht erfahren konnte, was man mir und meinen Freunden vor­warf, auch nicht, ob wir verhaftet, gefangen oder interniert waren.  Meine Freunde Franz, Ot­mar und Werner habe ich nur einmal flüchtig im Flur gesehen und schon der Versuch, mich ihnen bemerkbar zu ma­chen, brachte mir ein paar Stöße in die Rippen ein und dass ich nun Handschellen verpasst bekam, führte ich auch darauf zurück Aber warum durften die andern frei herumspazieren und ich nicht, das beschäftigte mich sehr.

Im Hof der Landwirtschaftsschule waren eine Menge Leute die da herumstanden oder saßen, sich unterhielten oder vor sich hin starrten. Viele von ihnen kannte ich vom Sehen. Mit meinen beiden Bewachern die mich, den gefesselten 16-jähri­gen Bur­schen eskortierten, ging ich durch das Spalier die­ser Menschen, von denen ich erst, als meine Ein­zelhaft aufgehoben war, erfuhr, wer das alles war.  Ein Jeep stand schon bereit.  Die Maschinenpi­stole fungierte als Platzanweiser.  Auf der Fahrt durch die zerstörte Stadt hielten sie häufig an, um sich mit anderen Soldaten zu unterhalten.  Mein Englisch war nicht weltbe­wegend und die amerika­nische Abart gab mir erst recht Rätsel auf.  Ein paar Brocken konnte ich verstehen und was ich hörte, war erstaunlich.  Die hielten mich für irgend ein hohes Tier. „Gaddämm“, „Wärwolf“, „Nazi­leader“, „Will be shot“, das waren die immer wie­der­kehren­den  Ausdrücke und da wurde mir schon etwas mulmig zumute. Bisher hatte ich das gan­ze Geschehen ziemlich gelassen gesehen, so wie ein Zuschauer ein Turnier beobachtet.  Jetzt rüc­kte ich selbst in den Mittelpunkt.  Da bisher alle Versuche, selbst Fragen zu stellen, radikal unterbunden worden waren und meine Bewacher grundsätzlich nur mit dem Lauf  der Waffe mit mir kom­muni­zierten, musste ich stillhalten, bis wir endlich vor einer Villa im Leutfresserweg an­hiel­ten.  Das eine war mir auf dieser Fahrt schon klar geworden, dass man mich für irgendein ganz gefährliches Subjekt hielt und dass dieser Irrtum lebensgefährlich war. 

 

Ich wurde in ein Zimmer geführt, mein Bewacher übergab einem Offizier meine Papiere.  Ich wur­de in einen kleinen Raum gebracht, wo mich ein baumlanger Farbiger bewachte. Zum er­sten Mal be­gegnete ich einem GI, der freundlich zu mir war.  Und zum erstenmal bekam ich auch was zu essen. Da merkte ich erst, welchen Hunger ich hatte. Es war ja schon länger als dreißig Stunden her, seit wir am Mainufer in Margetshöchheim von einer bis an die Zähne bewaffneten Truppe umstellt und aufgefordert worden waren, uns zu ergeben. Uns blieb da wirklich nichts anderes übrig, denn zur Verteidigung hatten wir nicht mal ein Taschenmesser und außerdem waren wir ja nicht auf dem Kriegspfad.  Unter Triumphgeschrei wurden wir damals auf einen Truck geladen und nach Würz­burg gebracht.  Das holperte und rumpelte über die trümmerübersäten Straßen.  Wir saßen auf dem Boden, die GI’s standen mit dem Rücken an die hintere Bordwand gelehnt.  Mich beherrschte bei der Fahrt nur ein Gedanke: „Hoffentlich geht dem bei diesem Gewackel nicht aus Versehen seine MP los.“

Erstmals bekam ich ein Coca-Cola.  Zu trinken hatte ich in meinem Heizungsraum genug, denn die Wasserleitung war intakt. Wichtiger war für mich, dass sich endlich einmal bei einem Menschen eine positive Regung zeigte, ein Lächeln oder Grinsen, Freundlichkeit oder Spott, egal.  Diese wohl­tuende Abwechslung währte nicht lange.  Ein kleiner Giftzwerg mit goldenen Streifen auf den Schulterstücken kam herein, was ich noch nicht aufgegessen hatte, nahm er mir ab und warf es in den Mülleimer.  Es pflanzte sich, ein kleiner Napoleon, hinter dem großen Schreibtisch auf und wie­der ging die Prozedur los, Personalien, eifrig notiert und verglichen, der Akt wuchs und für Papierverbrauch war gesorgt.  Schon oft habe ich mich über unsere deutsche Gründlichkeit, unseren Papierkrieg geärgert.  Die Amis zeigten uns schon bald, dass man für Lappalien acht Durchschläge auf verschiedenfarbiges Papier machen kann.  Neu war lediglich, dass, wenn wirklich nach einem der „Dokumente“ gesucht wurde, das in keiner Farbe aufzufinden war.  Ich wurde ins nächste Zim­mer weitergereicht.  Dort saß mein Freund Franz, eifrig schreibend, Kontaktaufnahme war nicht mög­lich, wir saßen Rücken an Rücken. Ein Schriftstück wurde mir gereicht: „Schreiben sie einen chronologischen Be­richt über die letzten sechs Wochen.  Was sie getan haben, wo sie waren, wen sie gesehen haben, welche Befehle sie auszuführen hatten, ausführen sollten.  Name und Nr. ihrer Dienst­stelle, ihrer Formation etc. Falsche Angaben werden strengstens bestraft.“  Und dazu bekam ich einige Blätter feinstes weißes Schreibpapier, wie ich es lange nicht mehr in Händen hatte.  Schade für das schöne Papier und das auch noch mit Kopierstift beschreiben, wie barbarisch. 

Also los. Obwohl ich mir schon vorstellen konnte, was die Herren Sieger von mir erwarteten, nahm ich die Aufforderung wörtlich.  Wie lange ich schrieb, weiß ich nicht.  Es waren Stunden und  es waren viele engbeschriebene Blätter.  Ich habe neben allen Erlebnissen dieser Zeit auch die Namen aller Menschen aufgeschrieben, die mir begegnet waren bis zurück zu den Lehrern und Mitschülern in der LBA.  Ich hatte mich in einen lustvollen Schreibrausch geschrieben, der mich alles um mich her vergessen ließ, was in den letzten Stunden geschehen war.  Von dem Giftzwerg wurde ich wie­der in die Wirklichkeit zurückgerissen.  Meine ersten Kurz-Memoiren blieben unvoll­endet.  Von dem großen schwarzen Mann bekam ich noch ein Dinner- Päckchen und ein Cola mit auf den Weg.  Zurück ging es zur Haft in der Friesstraße, wo uns die Ami’s eingebuchtet hatten und wo vor ihnen die Gestapo ihre Spielchen mir ihren Gefangenen getrieben haben soll.. Am nächsten Morgen wie­der rauf ins Obergeschoss.  Wieder Per­sonalien und endlich Verneh­mung zur Sache. Da stellte sich für mich schnell heraus, dass die Amis ganz schön reingefal­len waren auf unsern Propaganda­apparat. Die hatten einen Riesen­bammel vor dem „Werwolf“ und mit uns glaubten sie offensicht­lich ein paar ganz große Num­mern eingefangen zu haben.

Eine grelle Lampe lässt mich den feisten, auf einer dicken Zigarre kauenden, blassen Mann, der mich diesmal in die Mangel nimmt, nur undeutlich hinter dem Schreibtisch erkennen.  Im­mer wie­der befragt er mich zu den kleinsten Widersprüchen in meinen Aussagen, die mir bei dem dauern­den Herumreiten auf Daten unterlaufen waren.  Meine ausführlichen Erzählungen im chronolo­gi­schen Bericht erweisen sich nun als Bumerang.  Meine Aussage, dass ich von der Organisation des Wer­wolf keine Ahnung hätte und dass es mit der Aussage meines Freundes Franz, dass er beim Fähnlein „Werwolf“ gewesen sei, aber eine völlig andere Bewandtnis ha­t, dass das Grom­bühler Jungvolk, der Jungstamm 1, aus zwei Fähnlein bestanden habe, näm­lich Grombühl West –Fähnlein 1 mit dem Namen „Werwolf“, Grombühl Ost – Fähnlein 2 mit dem Namen „Seeräuber“ und das schon seit vie­len Jahren, das will er nicht glauben, sein Hirn verweigert ihm die Verarbei­tung der Fakten. Dann werde ich wieder im Keller verstaut. Mir knurrt der Magen. Ich trinke direkt aus dem Wasserhahn, das beruhigt  und vertreibt den Hunger.

Gerade will ich es mir gemütlich machen auf der alten versifften Matratze, die man mir rein­ge­schmissen hat, da werde ich wieder rausgeholt.  Zwei GI’s führen mich auf die Straße, gegen­über der Schule, in der ich die letzten Jahre gelebt und gelernt  habe.  Ein Jeep steht bereit: Vorn der Fahrer, ich hinten zwischen den zwei Amis.  Wieder durch die staubige Stadt, rüber über die Lö­wen­­brücke, aber diesmal Zellerau? Was kommt jetzt, frage ich mich. Es geht die Zeller Straße rauf, dann beim Bauchskeller links hoch.  Im Burggraben hocken ein paar Leute in der jetzt schon bekannten Stellung in der Hocke, Hände auf dem Knie, Zigarette, Kaugummi.  Die Wachposten hocken  auf der Mauer, die Knarre überm Knie. „Shut up“.  Kein Wort, sonst knallts.  Immer wieder wird einer weggeführt. Schließlich komme auch ich dran, werde hinüber geführt durch das Festungstor.  In dem Zelt  hinter dem Wall hockt wieder der Mensch, der mich schon gestern in der Mangel hatte. Auf einem großen Tisch sind Messkarten aufgelegt. Ich muss auf der Karte alle Stel­len zeigen, wo ich mich aufgehalten habe in den letzten Wochen. Er ist nicht zufrieden.  Er spricht gut deutsch, macht mir meine Lage klar. Partisanen sind vogelfrei.  Nur Kooperation kann mich ret­ten.  Aber was soll ich denn gestehen.  Ich hab doch alles gesagt.   Wenn ich nicht endlich meine Führer und Gefolgsleute nenne, alles auspacke, wird man kurzen Prozess mit mir machen.  „So, sie wollen nicht.“  Ein Wink. Die zwei Bewacher führen mich ein paar Schritte seitwärts. Hose runter, Hände gegen die Wand gedrückt.  Eine Binde wird mir um den Kopf geschlun­gen.  Ich höre deut­lich das rat­schen von Gewehren die durchgeladen werden.  Eigenartig.. Ich beobachte das alles, als ob es mir nichts angeht.  Ob es jetzt aus ist?  Meine letzten Sekunden?

Dann ist plötzlich Schluss mit der Vorstellung.-  Die GI’s lachen, reißen mir den Fetzen vom Kopf. „mack snell“.  Ein paar Stöße zwischen die Rippen.  Los geht’s. Zurück durch die Stadt. Wir kom­men an in der Luxburgstraße.  Wieder nichts zu essen.  Aber das ist jetzt über­haupt nicht wichtig. Ich merke auf einmal, dass ich lebe. Ich zittere wie Espenlaub, kalter Schweiß. Meine ganzen Kla­motten sind nass. Wieder klappern die Türen, der Schlüssel im Schloß und der Riegel. Ratsch­bumm.  Ich bin wieder allein. Mich friert.

Es war schon spät am Abend, als ich hinunter gebracht worden war in meinen Keller, der mir inzwi­schen so was wie Heimat geworden ist, denn nur noch da vermag ich logisch zu denken.  Lange kann ich nicht schlafen.  Wie kann ich denen das begreiflich machen.  Dass ich froh war, dass der Schla­massel endlich vorbei war, kann ich denen doch nicht auf die Nase binden und sähe das nicht aus, als wollte ich mich anbiedern ?  Und glauben werden sie mir das sowieso nicht.  Es leuchtet mir aber ein, dass wir selbst schuld daran sind, dass wir in diese Bredouille geraten sind. Das hätte leicht noch schlimmer ausgehen können.  Nicht nur zum Nachdenken, auch zum Schauen habe ich nun Zeit, denn ich werde am nächsten Morgen in den Hof geführt, ein Stuhl wird mir angewiesen und ein Wacht­posten achtet sorgfältig darauf, dass ich mit den anderen Gefangenen keinen Kontakt bekomme. Die stehen in Gruppen beisammen und unterhalten sich, andere spielen mit Konser­vendo­sen Fußball oder sitzen auf Bänken,  liegen auf dem Rasen und lesen, haben Zeitschriften und Bü­cher.  Auch meine Freunde hocken dort drüben.  Die können sich frei bewegen.  Warum ich nicht? Rätsel über Rätsel.  Aus Langeweile zähle ich die Flugzeuge, die über uns hinwegfliegen und ich mache für jedes einen Strich  in den Staub.  Der Wachtposten verwischt meine Zählhilfe mit den Stie­feln und bedeutet mir mit seiner Waffe, dass ich solches zu unterlassen habe.  Was haben die Amis nur für einen Affen an mir gefressen.  Das wird mir auch nicht klar, als ich die letzte Wo­che noch mal Revue passieren lasse.

Intermezzo

Am 27. März habe ich meine Mutter mit meinen jüngeren Brüdern in der Hütte am Edel­mannswald gefunden. Wir waren total ausgebombt.  Mit über 40 Wanderfreunden die auch aus der Stadt geflo­hen waren, haben sie sich notdürftig eingerichtet in  dem Haus mit einer Küche, einem Aufent­halts­raum und zwei Schlafräumen. Die Versorgung mit Lebensmitteln ist schwierig, denn wenn man schon etwas legal erwerben kann, muss es erst kilometerweit hinauf zum Kalten Brunnen ge­schleppt werden.  Doch wann wird schon was aufgerufen und wenn, kommen wir zu spät, denn dort draußen am Edelmannswald bekommt man keine Nachrichten, auch die Wurfzettel der Mili­tär­regierung und dann der deutschen Verwaltung verirren sich nicht zu uns.  An Hilfe von irgend­ wel­chen Hilfsorganisationen ist nicht zu denken.  Es sind ja fast ausschließlich Frauen und Kinder, die dort draußen untergeschlüpft sind.

Ich hatte Weisung gehabt, mich beim Wehrbezirkskommando zu melden, habe aber in den ersten Tagen keine Anstalten gemacht, das zu tun, es gab ja viel zu tun.  Die Angst der zwei älteren Män­ner vor den Streifen des Heldenklau bewogen mich schließlich, mit meinem Freund Franz loszuzie­hen.  Wir waren auf dem Weg, wollten entlang des Mains nach Würz­burg wandern, konn­ten da aber nicht weiter, erkletterten den Bahndamm, um quer durch den Ran­gierbahnhof über die Gleise zur Veitshöchheimerstraße zu kommen. Wir waren mittendrin, als sich aus Richtung Karlstadt eine gro­ße Anzahl von Flugzeugen näherte.  Ich konnte genau sehen, wie die Bomben aus den Flugzeu­g­schächten fielen, sagte: „Franz, pass auf, gleich knallt’s“ und dann war die Hölle los. Wir schmissen uns zwischen die Gleise, Schotter prasselte auf uns herunter, zum Glück wurde das meiste von dem Güterwaggon abgehalten. Weit drunten aus Richtung Karlstadt konn­te man die nächste Welle anfliegen sehen, wir suchten also schnell das Weite, kurz vor der steilen Böschung zur Straße ange­kom­men, rauschte der zweite Teppich herunter, hinter einem Wag­gon mit Tigerpanzer- Rohlingen fan­den wir Deckung, die Schottersteine verdunkelten den Himmel und regneten schmerzhaft herun­ter.   Unterhalb der Rebzucht kletterten wir den Hang hoch und überquerten die Straße, auf der vor­her eine Militärkolonne mit bespannten Fahr­zeugen unter­wegs gewesen war und wo jetzt das Chaos herrschte. Zwischen zertrümmerten Wagen und Gerät, zerfetzte und in ihrer Not schreiende Pferde, in die Höhe starrende Knochen und Beine, Blut  und Rauch, den Berg hinauf flüchtende Soldaten.  Während hinter uns die nächsten Wellen anbrandeten, rannten wir den Berg hoch. Hinter uns, da wo wir noch vor wenigen Augenblic­ken  gelegen hatten, rauschte die  nächste Ladung  herunter, schos­sen Fontänen hoch, Schienen ragten in die Luft, wieder wurden wir vom Schotterre­gen eingeholt.  Die flüchten­den Landser hatten alles weggeschmis­sen, Gasmasken, Gewehre, Tornister flogen her­um.  Ich setzte mir einen Stahlhelm auf und schon kam die nächste Welle.

Der Rangierbahnhof wurde regelrecht aufgerollt. Wir haben  nur deshalb eine Chance gehabt, raus zu kommen, weil die erste Welle am Bahnhof Veitshöch­heim begann und jede Staffel, die im glei­chen Abstand von Karlstadt her anflog seinen Bom­benteppich anschließend platzierte. Nun sahen wir aus halber Höhe wie der Rangierbahnhof, bis hin zur Zeller Brücke umgepflügt wurde   Was die Amis da fabrizierten war absolut sinn­los.  Zwei Tage später waren sie da und hätten intakte Ver­kehrs­wege brauchen können.  Weil ich wusste, was Soldaten auszubaden haben, wenn sie ihre „Braut“ verlieren, haben wir die Gewehre aufgesammelt und den Soldaten nachgetragen.  Die sag­ten uns: „Mensch, verzieht euch, sonst kommt ihr auch noch dran.“  Trotzdem ver­such­ten wir noch, nach Würzburg zu gelangen, wenigstens pro forma, denn das WBK würde ich mit Sicherheit mei­den  Über Ross­berg und Pfaffenberg bewegten wir uns in Richtung Unter­dürrbach.  Da nahm uns ein Tief­flie­ger – eine Lightning – aufs Korn. Warum denn uns beide? Auf dem Berg waren unzäh­lige Sol­daten, deren Tross auf der Hauptstraße aufgerie­ben worden war.  Wahrscheinlich haben die Feld­­grauen sich gut getarnt und wir liefen in kurzen Hosen und hellen Hemden durch die Gegend. Und wieder war uns das Glück hold.  Wir bewegten uns auf dem Weinbergs­weg, direkt in einer leichten Kurve mit Wein­bergsmauern auf beiden Seiten und einer kleinen Weinbergshütte an der Hangseite.  Die Splitter­bomben fetzten dahinter.  Als sie mit ihren Bordwaffen loshämmerten konn­ten wir den toten Winkel in der Kurve nutzen, dann sprangen wir in die Weinbergshütte, beim zwei­ten Anflug flogen uns noch mal die Geschosse um die Ohren, dann drehte er ab.  Wenn man zwei­mal so ein Glück gehabt hat, soll man das Schick­sal nicht her­ausfordern.  Wir sind nicht weiter nach Unterdürrbach gegangen, da hätten wir auch noch er­wischt werden können und auch nicht nach Würzburg, wo sie um diese Zeit die Zellerau vollends fertig gemacht haben. Auf dem Heim­weg konnten wir die Panzer auf der „Hettschter Höhe“ pflügen und die Mündungsfeuer blitzen se­hen, als sie die Verpflegungslager zwischen Main und Bahnkörper in Brand geschossen haben.

Auf unseren Streifzügen haben wir beobachtet, dass die Leute alles, was sie brauchen konn­ten, aus den zertrümmerten Waggons holen. Also machen auch wir uns auf den Weg. Am Bahnhof in Veits­höchheim requirieren wir einen zweirädrigen Brücken­wagen und holen uns aus den Waggons ein paar Klamotten.  Da sehen wir, dass unten in den Verpflegungs­lagern unzählige Menschen schlep­pen, was sie tragen können, da ist nicht nur ganz Veitshöch­heim auf den Beinen, die kommen auch von weiter her.  Und da finden wir alles, was wir zum Teil nur noch vom Hö­rensagen kenn­en: Schokolade, Butter in 20 Kilo-Kartons, Käseräder, Fleisch und Wurst in Dosen.  In einem bren­nenden Silo steht das Speiseöl knöchel­tief und von oben tropft bren­nen­der Zucker her­un­ter.  Wir haben unsern „Wagen voll gelade“. Ein ganzes Rad Emmentaler können  wir  nicht schleppen.  Irgendjemand hat ein Beil mit dabei.  Gemein­­sam gelingt es uns, das zähe Stück auseinander zu hauen.  Da stehen wir nun mit unserem Wagen.  Wie sollen wir den da hinauf zum Edelmannswald brin­gen.  Schließlich haben wir das Glück, einen Bauern zu finden, der sein Fuhrwerk mit solchen Schatzen bis oben hin vollgeladen hat und uns erlaubt, uns hinten dran zu hängen.  Es ist schon stock­­dunkel, als wir von Gadheim her die Hütte erreichen.  Für einige Zeit ist für Essen gesorgt, wenigstens für die Beilagen, denn Brot und Kartoffeln haben wir nicht gefunden.

Am 1.April haben wir die Tafel mit der Silberdistel, dem Zeichen des Fränkischen Albver­eins über der Eingangstür der Hütte abgenommen und darunter war die ganze Zeit über das Emblem der Natur­freunde, die verschlungenen Hände mit den Alpenrosen und der Gruß „Berg frei“ verborgen geblieben. Damit ist für uns der Touristenverein „Die Naturfreunde“ wieder geboren, auch wenn noch mehr als ein Jahr vergehen wird, bis von der Militärregierung die Li­zenz zur Wiedergründung erteilt wird.  Die von der Besatzungsmacht eingesetzte Zivil­ver­waltung hat die Adresse: Natur­freundehaus, Oberdürrbach 45 akzeptiert. Wir sind wie­der daheim, das Haus gehört wieder uns, den Naturfreunden. Wir Buben haben dafür gesorgt, dass, während der Krieg über uns hinweg rollte, wieder einigermaßen erträgliche Zeiten angebrochen sind, die Versorgung der dort zu­sam­men ge­pferch­ten Freunde gesichert ist, dass keiner hungern und frieren muss. Die Vor­räte sind aber schnell aufgebraucht, die Väter noch in Gefangenschaft, Briefe werden nicht be­fördert, es gibt kein Geld und die Läden, so überhaupt welche geöffnet sind, anscheinend leer.  Das Zusammenleben so vieler Menschen auf kleinstem Raum hat sich, durch das gemeinsa­me Schicksal genötigt, schnell einge­spielt.  Eine Gemeinschaft, aus der Tradition der Arbeiterbewegung und der Not geboren, bewährt sich jetzt wieder einmal..

Hinten im Wald sind noch deutsche Soldaten mit einem Pferdelazarett.  Sie versuchen, zi­vile Kla­motten, Fahrräder, Taschen, etc. zu bekommen und sich so nach Hause durchzuschlagen, weil sie keine Lust haben, in Gefangenschaft zu geraten. Wir können ihnen nicht viel helfen, denn wir haben ja nichts.  Aber mit guten Tipps können wir dienen.  Ob es was genutzt hat ?

Und als dann die Amis da sind, sind wir Buben weiter unterwegs und ­schauen, wo wir was orga­nisieren können.  So manches fällt uns in die Hände: der Spind aus der Kaserne, ein paar Uni­form­teile werden zu täglicher Kleidung, so manches reißen sich die Erwach­senen unter den Nagel, wie die Werkzeuge und den Tabak, aber wir kommen  über die Runden.  Was mich besonders freut: Ich finde eine komplette Marineuniform mit einem Hemd, das wie ein Korsett sitzt, die elegante Latz­hose mit weitem Schlag, die Jacke aus feinstem Tuch, alles wie für mich maßgeschneidert.  Das ist für die nächsten Jahre mein einziger, aber bei meinen Freunden Aufsehen erregender Sonntags- Aus­geh-Anzug:: „Mensch, wo hast’n denn den her?“

Auf unseren Erkundungen bin ich auch in Weinkellereien gekommen, z.B. gegenüber den Johan­niterbäck, da haben die Amis gerade ihren Sieg gefeiert.  Durch einen Aufzugschacht bin ich da hinuntergekraxelt und habe mir einen der herumstehenden Ballons mit Rotwein gefüllt.  Die Amis haben Löcher in die Fässer geschossen, da ist der Rotwein im Bogen rausge­spritzt.  Bei anderen Fäs­sern – und die waren alle über zwei Meter hoch, haben sie den Spund heraus geschlagen, knie­tief stand da schon der Wein.  Es waren da aber auch DP’s, Verschleppte wie Polen, Letten, Ukrainer zugange und die hatten ja an uns Deutschen einiges „gutzumachen“. Wäre mir nicht ein koh­lschwarzer GI zu Hilfe gekommen, wäre ich vielleicht nicht mehr lebend aus diesem Keller herausgekommen. Als ich dort hinten im Dunkeln einen Körper mit dem Gesicht nach unten herum­ schwimmen sah, habe ich schnell Leine gezogen. 

Zurück in die Friesstraße

Dann kam der Tag, an dem wir in der Zellerau auf die Suche nach brauchbaren Dingen gingen.  In den Kasernen wur­den wir schnell fündig.  Bettlaken, Socken, Unterwäsche und einen kleinen Hand­wagen fanden wir auch und den haben wir vollgeladen.  Wir waren zwischen 14 und 17 Jahre alt, noch nicht raus aus dem Alter, wo man spielt, herumalbert, nicht alles so krumm nimmt, und die bis da­hin für uns unproblematische Besatzungsmacht haben wir schon gar nicht ernst genommen.  Da haben wir halt auch ein paar Sachen mitgenommen, die wir gut brauchen konnten, was aber den CIC und CID zu falschen Schlüssen bringen musste. Denn wir fanden Blinkgeräte und Feldtelefone mit Induktionsmotoren und Tele­fondraht die Menge.  Die Blinkgeräte konnten wir doch, wenn es Nacht wurde, in unserer Notunter­kunft, wo nur eine Petroleumlampe für ein, zwei Stunden Licht spen­den durfte (solang Petroleum da war), gut gebrauchen.  Da können wir, so dachten wir uns das aus, abwechselnd die Kurbel drehen und wie hell das war und wie leicht das ging, haben wir aus­probiert.  Und die Feldtelefone – mein Gott, wir waren doch kaum aus unserer Räuber- und Schan­derzeit heraus, was ließ sich damit anfangen, da draußen im Wald.  So haben wir ein paar von den Blinkgeräten und Feldtelefonen auf den Kar­ren ge­schmissen und ein, zwei Rollen Telefondraht dazu und los ging’s, den Main entlang.  O je, die Zeller Brücke war auch gesprengt, müssen wir uns halt weiter hangeln nach Margets­höchheim wo es sicher eine Fähre gibt.  Aber da war auch keine in Betrieb.  Da kam ein Mann auf uns zu und fragte uns, wo wir denn hinwollten und was wir da alles mit uns führten.  Wir hatten keinerlei Arg­wohn.  Er fragte uns, ob wir denn nicht schon eingezogen worden wären, ob wir bei der Hitler­jugend seien und faselte was von Werwolf und Franz sagte: „Da war ich früher mal dabei und die da, damit meinte er mich und Otmar, „des warn Seeräuber“ und der Werner, der war im Fähnlein „S“.

 

Der Mann, der einen Roten Stern am Revers trug, riet uns dann, doch mit einem der Schif­fer, die am Ufer festgemacht hatten, zu reden, sicher würde er uns übersetzen.  Wir zogen unser Wägel­chen dorthin und waren gerade dabei, mit dem Schiffer darüber zu verhandeln, als wir, durch klap­pernde Geräusche aufmerksam gemacht, feststellen mussten, dass wir von einer Gruppe amerika­nischer GI’s umzingelt waren.  Sie hatten ihre Waffen entsichert und ein Maschinengewehr in Stellung ge­bracht.  Wir wurden aufgefordert, uns zu ergeben. Wir hielten das für einen Scherz und haben lauthals gelacht.  Das Lachen ist uns aber schnell vergangen.

 

Nun sitzen wir schon ein paar Tage in der Friesstraße.  Unsere Angehörigen wissen nicht wo wir sind. Wir haben keine Möglichkeit, sie zu informieren.  Das Gespräch mit dem Margetshöch­heimer ha­ben wir nicht in Verbindung gebracht  mit unserer Verhaftung.  Was der Werwolf ist, oder besser sein sollte, haben uns nach und nach die Amis verklickert.   Nach einem der fol­genden Gespräche mit dem Bleichgesicht wird meine strenge Bewachung gelockert.  Ich darf mich aus dem Bücher­schrank bedienen und bekomme regelmäßig Essen und Trinken.  Da sehe ich, als ich mich frei bewegen und mit den anderen reden darf, mit wem alles ich mein Los teile.  Da sind Orts­gruppen- und Kreisleiter der Partei, Goldfasanen aller Richtungen, aber nun alle grau in grau, HJ-Führer, aber auch Frauen und Mädchen.  Die wollen alle wis­sen, warum die mit mir so ein Wesens machen.  Erst hinterher, viel später ist mir klar gewor­den, dass der CID hinter den „Seeräubern“ eine Geheim­organisation vermutete, die den Werwolf lenkt.  Mit Mr. Sega und Colonel Johnson  habe ich später darüber gesprochen und sie haben meine Ansicht bestätigt.

 

Irgendwie ist es dem Werner, das ist der Jüngste von uns, gelungen, seine Eltern über unseren Ver­bleib mittels eines hinausgeschmuggelten Zettels zu informieren.  Diese haben dann mit Hilfe von Bürgermeister Sittig unsere Freilassung erwirkt.  Die Amis haben uns, als wir energisch nachbohr­ten, den Namen des Denunzianten genannt.  Sie erzählten uns auch, dass er das Handwä­gelchen mit allem Inhalt bei der Militärregierung abgeholt hat.  Wir sind ihm aufs Fell gerückt und haben ihn in seinem Hof in Margetshöchheim, in der Nähe der Waage aufgesucht.  Er hat alles abgestritten, auch unsere Sachen zu haben.  Der Handwagen stand im Hof.  Wir haben beschlossen, ihm einen Denk­zettel zu verpassen, aber wie das so ist, man macht’s dann doch nicht.  Es hat mich aber diebisch gefreut, als ich hörte, dass die Amis in Veitshöchheim, eine knallharte Truppe, man unkte, es sei eine Strafkompanie, ihn so verbläut hat, dass er reif fürs Krankenhaus war.  Der Grund war aller­dings das Abzeichen, das er trug und auch schon uns aufgefallen war:  Ein roter Stern mit Hammer und Sichel.

 

 

Ein paar Tage später stand ich am Arbeitsamt an der Schweinfurterstraße, als ein Ami- Truck voll geladen mit gefangenen Zivilisten anhielt.  Einer der Männer, ich kannte ihn von der Friesstraße, rief mir zu, ich solle seine Frau benachrichtigen, sie kämen nach Hammelburg und er hielt mir ein Billett mir der Adresse entgegen.  Bevor ich zugreifen konnte, zog einer der Bewacher seine Pistole und wieder hörte ich das bekannte Geräusch und diesmal knallte es auch, ich hörte das Vögelchen zwitschern.  Als der Wagen weiterfuhr, flatterte der Zettel zu Boden.  Ich hob ihn aber erst auf, als der Truck schon außer Sichtweite war. Seine in der Erthal­straße wohnende Gattin zeigte aller­dings kei­nerlei Regung über meine Nachricht – wieder eine neue Erfahrung und da läuft man ein paar Kilometer hin und zurück und dafür riskiert man  auch noch Kopf und Kragen.