Grombühl 1933 -1945

Bei der Abendveranstaltung zur Verlegung von Stolpersteinen in 
Würzburg- Grombühl am 11. Februar 2oo8 

erzählte Helmut Försch über seine Kindheit und Jugend während der Nazizeit.

Grombühl 1933 – 1945   -  M. s.v.D +H

Mit wenigen Blitzlichtern darf ich Sie in die Zeit meiner Kindheit und Jugend führen, davon erzählen, wie ich sie erlebt habe.  Im Juli 1928 geboren, war ich am Ende der Diktatur noch nicht ganz 17 Jahre.  Ich habe diese Zeit, zumindest von meinem achten Lebensjahr an, mit wachen Sinnen erlebt.  Dabei lagen Begeisterung und Enttäuschung, Elternhaus und Schule, Pflicht und Gewissen immer wieder im Widerstreit.  Ich habe damals nichts getan, dessen ich mich schämen müsste, aber ich gehöre zur Tätergeneration und habe zeitlebens schwer an dieser Hypothek getragen.  Von 1946 an habe ich mich mit dieser Vergangenheit beschäftigt und deshalb sind mir Geschehnisse und Gefühle, Gespräche und Reflexionen gegenwärtig.

Grombühl war ein Stadtteil, mehr eine Vorstadtgemeinde der kleinen Leute, der Arbeiter, Handwerker und Beamten.  Unmittelbar nach der Machtübernahme waren die Parteien  und Organisationen der demokratischen Linken ihrer Führung beraubt, die aktiven Mitglieder in Kerker und KZ eingeschlossen oder unter Rechtsbeugung verurteilt.  Viele blieben dauernd verschwunden, andere kamen schweigend zurück.  Oft werde ich gefragt, ob man denn nicht gemerkt habe, was da geschah.  O ja, das Verschwinden von Menschen bis zum Beginn des Krieges wurde sehr wohl registriert, es wurde ja sogar in den Zeitungen veröffentlicht, wenn man wieder einmal einen Kommunisten, Sozialisten, Geistlichen oder Widerspenstigen aus dem Verkehr gezogen hat.  Da wusste man, das waren Gegner der Nazis.  Bei vielen anderen, die unter die Räder kamen, war das anders.  Sie verschwanden zum Teil spurlos oder wurden, wie die jüdischen Mitbürger und die Euthanasieopfer zuerst in Häusern und Heimen zusammen gepfercht, eines Tages umgesiedelt und an anderen Orten umgebracht.  Ab 1939 waren Millionen von Menschen zum Militär, zum Kriegsdienst, zum Arbeitseinsatz zwangs­verpflichtet oder evakuiert worden.  Es gab kaum eine Familie, in der man nicht um einen Menschen bangte und weinte.  Das nutzten die Kolonnen der Vollzugsbeamten des Terrors, ihre Gefangenen endgültig verschwinden zu lassen.

Man lebte hier wie in einem kleinen Städtchen.  Man kannte einander.  Die wenigen aktiven Nazis waren durch die zur Schau getragenen Uniformen und anfangs mit Hakenkreuzfahnen vor ihren Fenstern bekannt.  Bei uns in der Grombühlstraße hingen nur ein paar davon.  Die Bürger wurden aufgefordert, diese Fahnen raus zu hängen.  Nichts half.  Schließlich wurden die Hausherrn verpflichtet, sie zu kaufen und Halterungen anzubringen. Weil mein Vater sich weigerte, ich aber seit kurzem begeistert beim Jungvolk war, hängte ich sie raus. Man grüßte mit „Grüß Gott“ oder „Guten Tag“, die Nazis  kannte man auch ohne das Parteiabzeichen.  Der Frisör Grümbel gegenüber hat während seiner Arbeit kein Blatt vor den Mund genommen, hat auch Witze über die Nazis erzählt während ich wartete dran zu kommen..
Er hatte eine Enkelin, Hannelore, die Halbjüdin war.  Er wurde nicht verpfiffen, Tochter und Enkelin geachtet.  Als ich mit den Naziparolen „Die Juden sind unser Unglück“, mit Ausdrücken wie Abschaum, Novemberverbrecher, Blutsaugern und Untermenschen von der Schule heimkam, sagte mein Vater: „Meinst Du wirklich, dass die Juden die du kennst, Unglück, Blutsauger, Abschaum sind“ „Aber Papa, ich kenne doch gar keine Juden“ „Natürlich kennst du sie:  zum Beispiel Herrn Gotthilf,  die Kastanienbaums und Dr.Loeb“ . „Das sind Juden?“  Herrn Gotthilf hatte ich ins Herz geschlossen, nicht nur, weil er aussah wie der Gottvater in meinem Katechismus. Er strich mir auch zuweilen gütig über die Haare , er gestattete mir auch, in seinem Papierlager zu stöbern und mitzunehmen was mir gefiel. Dort wurde die den Nazis nicht genehme Literatur eingestampft und ich schleppte sie heim: Kästner, Tucholski, Feuchtwanger, Frank, Fallada, Mann, Morgenstern – sie blieben nicht ohne Einfluss auf meine Entwicklung. Auch die Kastanienbaums mochte ich.  Wir Buben hatten meist mit Frau Kastanienbaum zu tun, wenn wir ihr unser Altmetall brachten.  Wir sagten: „Bei der „Bella“ kriege mer e weng mehr wie beim Gotthilf für unner Zeuch“  Sie fragte uns immer genau aus, woher wir die Sachen hatten.  Ab 1935 waren Entrümpelungen der Dachböden wegen des Luftschutzes angesagt.  Wir boten den Nachbarn an, das wegzubringen, halfen beim Entrümpeln, legten für uns Wertloses auf die Straße, aber Blei, Kupfer, Zinn, Messing  ging mit uns zu Bella und Gotthilf. Vor dem kleinen Kabäuschen mit der Waage, in dem Bella Kastanienbaum mit uns abrechnete und herrschte, saß bei schönem Wetter  ihre Mutter „Oma Tine“ –  in der Sonne und strickte, schaute dem Verkehr und unserm Treiben zu.

Wir Buben sind aus damals verständlichen Gründen zumindest anfangs von Jungvolk und HJ begeistert gewesen.  Wir hatten nur einfachste Kleidung, kurze Hosen, lange schwarze wollene Strümpfe mit Straps und Leibchen und die, die lockten mit Schihose und Fahrten­messer, Geländespiel und Zeltlager, Segelfliegen und Seesportschule, Schifahren und Reiten und unsere Jungvolkführer kamen von den Pfadfindern und bauten diese nach dem Krieg auch wieder auf.  Der NS spielte dort  nicht die überragende Rolle wie in der Schule. Erst als ich mit 14 Jahren ins Schul­heim der LBA wechselte, lernte ich die menschenverachtende und kulturfeind­liche Dressur zum willenlosen Befehlsempfänger kennen.  Daraus und aus den Versuchen meines Vaters, mir ein eigenes Bild zu vermitteln, ergab sich eine zunehmende Distanz zu diesen Leuten, auch wenn Papa mir vom 11. Lebensjahr an nicht mehr als Freund und Berater zur Verfügung stand, weil er alle Offerten der Nazis, bei ihnen mitzuarbeiten ablehnte und deshalb dienstverpflichtet wurde – ich lernte mit offenen Augen.

Meine Eltern waren bis zum Verbot 1933 Mitglied der Naturfreunde gewesen und in sozialem Kontakt mit der demokratischen Linken.  Einige von ihnen waren den Nazis ins Netz gegan­gen.  Da hörte ich öfter, dass man wieder einen geholt hatte und da hing immer ein Schicksal dran: Namen wie Albert, Sittig, Schwab, Kröckel, Brand, Schubart, Freuden­berger tauchten in Gesprächen der Eltern und ihres Freundeskreises immer wieder auf.  Martin Adelmann aus unserm Haus und Ernst Thalheimer von nebenan verschwanden spurlos.

Wir Buben in Grombühl haben in zwei Welten gelebt, die sich nicht mischen ließen.  Wir gingen zum Kommunionunterricht, marschierten begeistert im Jungvolk mit, aber wir gingen zu Bella und Gotthilf, pflegten Umgang mit gefangenen Franzosen, später mit  Russen und Fremdarbeitern, sammelten Kippen für sie und Rohtabak von den Zigarrenfabriken Bayerl und Sauer, zweigten Kartoffeln und Brot ab und legten das an den Platz, wo Iwan vorbei kam.  Wir warfen es den zerlumpten Russen und Zwangsarbeitern zu, die abends von der Nürnberger Straße kommend von Soldaten durch die Grombühlstraße getrieben wurden – ein Elendszug, der so manchen Menschen nachdenken  ließ:.   „Wenn wir das nicht einmal büßen müssen.“ hörte ich Nachbarn offen aussprechen.

Bis lang nach dem Krieg glaubte ich noch an dieses schöne Bild von den anständigen Grombühler Bürgern insgesamt.  Die für mich sichtbare Trennung zwischen Nazis und einer schweigenden Mehrheit.  Einer schweigenden Mehrheit, der im überwiegenden teil nicht bewusst war, welche Mitschuld, zumindest aber Mitverantwortung sie auf sich geladen hatte, die auch nicht ahnte, was alles in ihrem Namen geschehen war und noch geschehen würde.  Erst Recherchen, vor allem auch in den Akten der Gestapo zeigte:  Es gab auch Informanten, Verleumder, meist aus niedrigen Beweg­gründen oder weil sie sich einen Vorteil, eine Beförderung, das Gut eines andern oder eine UK-Stel­lung versprachen, wie uns das Schicksal von Philipp Tripp zeigt, dessen Stolperstein wir heute verlegt haben.  Die Stolpersteine sollen auch diese Seite beleuchten und mahnen.  Sie sind für mich Ansatz zur Aufklärung in den Schulen, Mahnung vor den Gefahren des Rechtsradika­lismus und vor allem die Erinnerung an unsere ermordeten Mitbürger.  Sie sollen aber auch Mut machen, sich mit offenen Augen in unserer Zeit zu bewegen und überall dort, wo Menschenrechte in Gefahr sind, Menschen bedroht, ausgegrenzt, in ihrer Gesundheit oder ihrem Selbstwertgefühl verletzt werden, engagiert einzugreifen nach eigenem Vermögen.

Dann können wir beruhigt schlafen.